Nach den arabischen Eroberungszügen stand Tanger erstmals im 15. Jahrhundert für rund 200 Jahre unter portugiesischer Fremdherrschaft. Im 19. Jahrhundert wurde die Stadt Sitz der beim Sultan akkreditierten europäischen und außereuropäischen Auslandsvertretungen, insbesondere der 1821 eröffneten "amerikanischen Gesandtschaft", der ersten ständigen Vertretung eines Landes weltweit.
Frankreich hatte da gerade mit der Annektierung Algeriens begonnen, stieß dabei jedoch auf bewaffneten Widerstand. Weil der marokkanische Sultan die algerischen Widerstandsaktivitäten unterstützte, startete Frankreich 1844 eine erste Strafexpedition, bei der die Städte Mogador (das heutige Essaouira) und Tanger von der französischen Marine bombardiert und ein marokkanischer Truppenverband im algerischen Grenzgebiet vernichtend geschlagen wurden. In der Folge hatte Frankreich in Algerien freie Hand und eroberte das Land vollständig.
Zu jener Zeit war Marokko eines der letzten unabhängigen Länder Afrikas, ein Zustand, der die europäischen Großmächte, insbesondere Frankreich, England, Deutschland und Spanien, ihre kolonialen Begehrlichkeiten zum offenen Anspruch erheben ließ. Mit Handelsniederlassungen, vorteilhaften Handelsverträgen und militärischem Druck versuchte jedes Land, sich frühzeitig in Stellung zu bringen. Dies gelang umso leichter, als der Sultan zunehmend im eigenen Land an Autorität verlor und sich einem drohenden Bürgerkrieg gegenüber sah.
Vor dem Hintergrund der innereuropäischen Spannungen im ausgehenden 19. Jahrhundert kam es auch in der kolonialen Frage zu Rivalitäten, vornehmlich zwischen Frankreich und Deutschland. Frankreich, das bereits im Nachbarland Algerien Fuß gefasst hatte und auch auf marokkanischem Territorium einige Regionen längs der Grenze besetzt hielt, setzte alles daran, ganz Marokko für sich zu gewinnen. Dies gelang der "Grande Nation" durch geschicktes Taktieren am Ende tatsächlich. Den schwachen Sultan machte man sich mit selektiver militärischer und wirtschaftlicher Hilfe gefügig. Mit England verbündete man sich im Rahmen der berühmten Entente Cordiale, indem man den Briten in Ägypten freie Hand ließ. Genauso gewährte man den Italienern Handlungsfreiheit in Libyen. Mit Spanien, das bereits im äußersten Südwesten des Landes (Ifni und Rio de Oro in "Spanisch-Sahara") präsent war, wollte man sich zu einem späteren Zeitpunkt einigen. Blieb nur noch Deutschland, das mit Unternehmungen der Gebrüder Mannesmann in der Nähe von Fédala (dem heutigen Mohammedia) ebenfalls Wirtschaftsinteressen zu verteidigen hatte.
Der deutsche Kaiser aber, aus Furcht, übervorteilt zu werden und am Ende leer auszugehen, sorgte für eine diplomatische Krise, als er 1905 mit seiner kaiserlichen Yacht "Hohenzollern I" höchstpersönlich in Tanger anlegte und unter großem Geleit dem Sultan die wahren Absichten der Franzosen und Spanier offenbarte.
Auf der internationalen Konferenz von Algeciras (der spanischen Hafenstadt auf der anderen Seite der Meerenge) 1906 mussten sich die Europäer darauf hin zur Souveränität des Sultans bekennen; gleichzeitig aber wurde in dem Dokument der ungehinderte Zugang westlicher Unternehmen zum marokkanischen Markt festgeschrieben und Marokko unter internationale Beobachtung gestellt. Der deutsche Kaiser, der erkannte, dass der Ausbau sicherer Handelswege unter einer spanisch-französischen Herrschaft in Marokko auch ihm von Nutzen wäre, sah schließlich davon ab, den Streit mit Frankreich weiter eskalieren zu lassen.
So durfte im März 1912 der französische Bevollmächtigte in der Stadt Fès mit dem marokkanischen Sultan den Protektoratsvertrag unterzeichnen. Damit war Marokko faktisch in der Hand der Franzosen, mit Ausnahme des Nordens (Tetuan, Ceuta, Al-Hoceima, Melilla), den die Franzosen Spanien überlassen haben. Allerdings wurde der zukünftige Status von Tanger dabei ausdrücklich ausgeklammert: Auf den strategischen Wert der Stadt wollte keine der Mächte verzichten. So kam es, dass man 1923 aus Tanger eine international verwaltete, zollfreie Sonderzone machte. De facto hatten Franzosen, Spanier, Briten und Italiener in Tanger das Sagen.
Die strategische Lage von Tanger in der Meerenge von Gibraltar
Der besondere Status der Stadt zog Menschen aus aller Welt an und ließ das wirtschaftliche Leben schlagartig aufblühen. Ein starker Zustrom auch aus dem unmittelbaren Umland sorgte dafür, dass sich die Bevölkerung Tangers in den folgenden dreißig Jahren verdreifachte. Neben den Muslimen und Juden, die weiterhin Untertanen des Sultans blieben, lebten 1952 42.000 Christen in der Stadt. In der Mehrzahl waren das Spanier, unter ihnen sicher auch viele, die dem Bürgerkrieg in ihrer Heimat den Rücken kehrten.
Insgesamt lebte eine einzigartige multiethnische Gemeinschaft in Tanger. Man sprach Spanisch, Französisch und Arabisch. Und konnte in spanischen Pesetas, französischen Francs und britischen Pounds zahlen. Die Freizügigkeit der Sitten, der leichte Zugang zu Drogen sowie die tolerante Einstellung zur Homosexualität haben Sinnsucher, Künstler und Abenteurer angezogen. Namhafte Schriftsteller wie Tennessee Williams, Jean Genet, William Burroughs und vor allem Paul Bowles ließen sich in Tanger inspirieren und haben bleibende Spuren hinterlassen. Tanger galt damals als die modernste Stadt Afrikas.
Es kamen aber auch zwielichtige Gestalten nach Tanger: Schmuggler, Ganoven aller Art und, vor dem Hintergrund des spanischen Bürgerkrieges und des zweiten Weltkrieges, zahlreiche Spione. Stoff für unzählige Kriminalromane!
Während sich in Tanger ein kosmopolites Bürgertum wie zuhause fühlte, wuchs im Rest des Landes der Unmut der muslimischen Bevölkerung über die Fremdherrschaft. Weil die große Mehrheit der Bevölkerung keinen Anteil an den Gewinnen der boomenden Wirtschaft hatte, formierte sich eine arabisch-nationalistische Bewegung, die nach dem Zweiten Weltkrieg an Zustimmung gewann und den ideologischen und bewaffneten Kampf gegen die Besatzer wagte.
Im Jahre 1947 hält Sultan Mohammed Ben Youssef (der spätere König Mohammed V) auf dem großen Marktplatz von Tanger eine historische Rede, in der er erstmals die Forderung nach einem vereinten, unabhängigen, arabischen Staat Marokko erhebt.
1956 ist das Ziel erreicht: Frankreich, dessen Kräfte im blutigen Befreiungskrieg in Algerien gebunden sind, zieht sich zurück und erklärt Marokko offiziell für unabhängig. Auch General Franco gibt die Gebiete des Rif zurück. Schließlich verliert Tanger seinen Sonderstatus, obgleich Steuervorteile und Devisenfreiheit noch bis 1960 aufrecht erhalten werden.
In der Folgezeit setzt der Niedergang der Stadt ein. Ihr nächster Aufschwung sollte 40 Jahre auf sich warten lassen.